CLAVIGO
Andreas B. Krueger
Was zählt, ist, dort gewesen zu sein; dort, wo Du sein könntest, dort, wo Du bist und wo ich Dich vermute, wo Du oft bist und ich Dich nie treffe. Was mich reizt, ist, dass ich Dich dort treffen könnte. Ich konnte Dich nicht mehr berühren. Da war keine Textur mehr, Deine Haut war wie durchsichtig, so billig es klingt, aber Du hättest jeden Moment verschwunden sein können. Ich konnte Dich nicht berühren. Ich konnte Dich nicht fassen. Das ist alles nicht wahr, denn ich kann es nicht beschreiben.
Eine Zeit lang sah ich Dich lang immer nur nachts. Ich habe morgens manchmal Dein Schlafzimmer fotografiert, weil ich ein Bild davon haben wollte, wie ich bei Dir gewesen bin, wie ich aussah, wie Du aussahst, doch alle Bilder von Dir sind unscharf. Sie sind aus einer Zeit, als es anfing, dass ich Dich nicht mehr liebte, ich brauchte Dich nicht mehr, ich wollte etwas Materielles besitzen, weil ich Dich nicht haben konnte. Ich hätte Dich erdrücken können, ich habe Dich erdrückt und Du versuchtest zu fliehen. Du warst zu schwach um zu laufen und ich war zu schwach, um Dir hinterherzulaufen. Du bist damals eine seltsame Art von Tod gestorben.
Du schmeichelst mir mit deiner Hartnäckigkeit. Vielleicht mag ich das, bestimmt.
Das Türklappen brennt sich ein, die weiße Pforte mit dem metallenen Beschlag. Warum ich nicht mit Dir schlafen wollte damals? Weil neben uns der Müll stand, weil nebenan Deine Freunde waren, nur durch einen Vorhang getrennt, wir uns erst ein paar Wochen kannten, weil ich fettige Haare hatte und Angst. Morgen, morgen, immer morgen, und morgen sagst Du, heute geht nicht. Ich wünschte, Du würdest einfach vorbeikommen, und dass es kein Telefon und kein Internet gäbe. Du würdest einfach klingeln oder klopfen und dann müsste man sich die wirklich wichtigen Fragen stellen, warum bist Du da, warum gerade jetzt und nicht an einem anderen Tag, zu einer anderen Zeit, sondern gerade jetzt.
Zu den unpassendsten Momenten schenkst mir die schönsten Dinge. Deshalb waren sie nie schön. Wir sehen uns immer, jedes einzelne Mal. Mittlerweile schlafe ich immer in Deinem Bett, und die Laken sind immer noch viel zu weiß, und auch das ist ein schlechtes Beispiel, denn es stimmt. Neulich lagen zwei der vier oder fünf Kissen am Morgen auf dem Boden, warum, weiß ich nicht. Das muss Metaphysik sein.
Hast Du schon mal einen ganzen Körper fotografiert? Ein Körper ist nie intakt, es fehlt immer etwas, und sei es der Rücken, die Augenlider, wenn Du mich ansiehst oder die Innenseite der Hände, wenn Du Dein Gesicht versteckst. Du kommst nicht von hier und tust so als ob. Du ludst mich ein und gingst nach Hause. Am Nachmittag riefst Du mich an und wolltest reden, ich wusste nicht, worüber. Du sagtest, ihr hättet nachts geredet und morgens. Was wolltest Du mir sagen?
Klar, es gibt ein erstes Mal für alles, aber in den seltensten Fällen passiert alles auf einmal: ein Blick, ein Wort, ein Kuss, eine Berührung oder umgekehrt. Manchmal fehlen auch Teile. Du bist nicht jedes Du. Jedes Mal bist Du eine andere, jedes Mal, wenn Du betrunken bist und doch nie so sehr, dass Du mir um den Hals fallen würdest.
Es gibt keinen wirklichen Anfang, noch ein Ende. Alles ist nur ein Loslaufen und ein plötzlicher Stop. Für mich hatte es nie begonnen, eine furchtbare, kalte, seriöse Lüge.
Ich habe neulich schon wieder an den Satz mit den roten Haaren und dem Silberdraht gedacht. Du hast nie meine Haut durchlöchert und hast mir nichts geschenkt. Du wohnst jetzt da, wo Du immer wohntest, jedenfalls nicht weit weg, Du rechtfertigst Dich für Deine Möbel und reißt ungelenke Witze über die Männer, die hier ein- und ausgehen, vielleicht, das weiß ich nicht so genau und Du vielleicht auch nicht. Der Ort hat eine zweifelhafte Präsenz.
Ich hatte Dir ein Foto geschenkt, mit irgendeinem falschen Vorwand, weil ich Dir es nicht einfach so schenken wollte; es war…more convenient. Das Seltsame ist, dass Du das Foto noch hast. Es war ein Anfang, obwohl es nicht so gedacht war. Irgendwann habe ich verstanden, dass Du mich immer nur anriefst, wenn. Wenn, wenn, wenn. Du warst verletzt, verliebt, HIV-positiv, schwanger oder auch nicht, verlassen, verwirrt, oder alles zusammen. Zählt mein Name?
Deine Sprache fängt an, sich aufzulösen. Besser: Das tut sie schon eine ganze Weile. Zuerst fehlten nur ein paar Wörter, irgendwann waren Deine Sätze nur noch Stumpen, und auch das hat sich noch auf das absolute Minimum reduziert. Bruchstücke. Du schriebst mir, weiter und weiter. Mit der Hand, ich konnte ich es kaum noch lesen. Immer wenn ich bei Dir war, starrte ich auf dieses Plakat und betrachtete die Abstände zwischen den Buchstaben.
Aber es war viel banaler, viel einfacher. Sich zu trennen, obwohl man nie zusammen war. Dann guckt man auf den Boden und die schlurfenden Füße. Vielleicht kommt meine Fixierung auf Schuhe und Schnürsenkel daher. Das ist Schnürsenkel-Phobie, würde ich sagen. Jahre später hast Du mir Lieder geschickt, von denen ich nicht wusste, wofür sie standen. Ich mochte das, ich mochte diese cremigen Texte, die auf alles und nichts zutrafen.
Einsamkeit ohne Fantasie verläuft potenziell tödlich. Ich habe Bilder von Dir, ich habe Worte von Dir, ich habe sie bekommen, schwarz auf weiß, im Grunde habe ich alles von Dir. Ich habe Dich gesehen und nicht jemand anderes. Ich weiß nicht mehr, wie Du aussiehst, ich weiß nicht mehr, wer Du bist, wo Du bist, wie Du Dich anfühlst, wie Du riechst.
Du warst ein beauparleur, eine clairvoyante. Du wusstest schon, was passieren würde, bevor es überhaupt begann. Eigentlich wusstest Du alles, immer, alles, immer und immer wieder.
Vielleicht warst Du eine Maschine, ein Roboter: Vielleicht bist Du das Gegenteil von dem, was Du glaubst zu sein.