Analog II

suzieq

"Möchten Sie ein Zugbillet kaufen?", fragte mich die SBB-Angestellte in der Schalterhalle am Bahnhof, als ich meine Nummer zog und mich in die Schlange der Wartenden einreihte. Ich bejahte ihre Frage in der Hoffnung, zu einem speziellen Schalter geführt zu werden, wo man rasch abgefertigt wurde (ich wollte ja nur ein Billet, und nicht etwa eine Fernreise buchen mit mehreren Zugverbindungen, Hotelübernachtungen, Schlafwagenbuchungen usw.). Stattdessen fragte sie mich: "Haben Sie es schon einmal online versucht?".

Etwas perplex gab ich zur Antwort "Nein, so etwas mache ich nicht, und ich habe zu Hause kein Internet". Sie schaute mich an mit einer Mischung aus Mitleid und Nachsicht im Blick, und ich durfte weiterhin warten, bis ein Schalter frei wurde.

 

Wie gern hätte ich die adrett uniformierte Dame gefragt, ob es denn nicht mehr erlaubt sei, ein Billet am Schalter zu kaufen. Ich schämte mich geradezu, unnötig Platz in der Warteschlange zu beanspruchen und andere Leute, die wichtigere Anliegen hatten, aufzuhalten. Beruhigt war ich erst, als der freundliche ältere Herr am Schalter meinen Wunsch durchaus ernst nahm und ohne mit der Wimper zu zucken das gewünschte Ticket aushändigte (möglicherweise hing dies damit zusammen, dass er selbst bereits älteren Jahrgangs war und seine Pensionierung in nicht mehr allzu ferner Zukunft lag).

 

Damit keine Missverständnisse aufkommen, möchte ich sagen, dass ich sooooo alt noch nicht bin. Ich stehe mitten im Berufsleben, manage meinen Haushalt und übe noch das eine oder andere Hobby aus. Ich verfolge das Tagesgeschehen und bin im allgemeinen nicht auf dem Kopf gefallen. Ich besitze sogar ein Handy, damit ich in Notfällen telefonieren kann und vor allem, um Kurznachrichten an liebe Menschen zu verschicken.

 

Aber – jetzt kommt das grosse ABER – ich bin lieber offline. Brauche ich etwas, greife ich lieber zum Telefon oder begebe mich direkt vor Ort, um das Gewünschte zu erhalten. Warten macht mir nichts aus – es gehört eben dazu. Dafür habe ich ein Gegenüber, das mir zuhört, Fragen stellt und – je nach Lage der Dinge - verständnisvoll mit dem Kopf nickt oder sorgenvoll die Stirn runzelt.

 

Da ich nicht sehr oft längere Strecken per Bahn zurücklege, hatte ich den Vorfall in der SBB-Schalterhalle bald wieder vergessen. Das nächste Billet – eine Tageskarte für einen Ausflug – kaufte ich in der Filiale eines Heimelektronik-Discounters, der diese dank eines Vertrags mit der SBB zu reduziertem Preis verkaufen durfte (über derartige branchenübergreifende Geschäftsverbindungen mache ich mir inzwischen keine Gedanken mehr).

 

Glücklich über mein Schnäppchen sass ich im Zug auf dem Weg in die kleinste Kantonshauptstadt der Schweiz, die in einem engen Tal liegt. Ich freute mich darauf, einen Tag fern vom dicht besiedelten Mittelland zu verbringen (scheint es mir doch jedes Mal, als ginge es dort noch ein wenig beschaulicher, sozusagen "analoger" zu als in der Agglomeration grösserer Städte).

Da fiel mein Blick auf eine Werbetafel der SBB, die an der Wand des Zugabteils angebracht war. Darauf war eine businessmässig gekleidete Seniorin zu sehen, die dem Betrachter forsch ihr Smartphone entgegenhielt und mit vorwurfsvollem Gesicht sagte: "Sie möchten Ihr Billet nicht mit der App bezahlen? So viel Zeit möchte ich auch haben."

 

Vorbei war es mit dem wohligen Gefühl, der erbarmungslos zwangsdigitalisierten Welt für kurze Zeit zu entfliehen.

Ich schämte mich, dass ich mir – obschon zu 100 % berufstätig – die Zeit nahm, in Schalterhallen herumzulungern anstatt mein Billet online zu bestellen und meine Zeit für Sinnvolleres zu nutzen (vielleicht, um via Smartphone-App die Börsenkurse zu checken, oder um einen Onlinekauf zu tätigen?).

 

Und ich fragte mich, ob es in naher Zukunft noch möglich sein würde, ein Billet am Schalter oder am Automaten zu kaufen.

Würde man mich dezent darauf aufmerksam machen, dass Billets nur noch online ausgestellt würden?

Werde ich mir für mehrere Hundert Franken ein Smartphone kaufen müssen, das ich sonst zu nichts brauche, damit ich weiterhin mit dem Zug fahren kann?

Und wenn ich dies nicht tue und mich trotzdem in einen Zug setze – wird mich der Kontrolleur hinaus werfen? Bekomme ich eine Busse und einen Eintrag im Strafregister? Und wenn ich die Busse nicht bezahle, werde ich dann betrieben? Werde ich künftig durch einen Eintrag im Betreibungsregister bei Job- und Wohnungssuche benachteiligt sein?

 

Liebe SBB – ich glaube, ich verlängere meinen Swiss Pass das nächste Mal nicht mehr und steige wieder aufs Auto um.

Dabei wollte ich doch mein Billet bezahlen.

Signaler ce texte