Heimat

perno

Ein Essay über das Wort Heimat und was ich, ein Franzose und überzeugter Europäer, der in Berlin lebt, darunter verstehe.

              Während meines gesamten Studiums stellte dieses Wort ein Rätsel für mich dar und ich setzte mich immer wieder damit auseinander. In meiner Muttersprache gibt es tatsächlich dafür keine genau passende Übersetzung. Wie groß soll die Heimat sein und was bedeutet sie? „Patrie“ bezeichnet zwar das Vaterland, doch auf französisch wird oft von „Mutter Vaterland“ gesprochen! Mit diesen letzten Begriffen verknüpfen die Meisten die Idee einer Gemeinschaft und einer Nation. Allerdings trägt Heimat im deutschen Sinne etwas Persönlicheres, wenn nicht Intimeres in sich, es beschreibt zusätzlich ein Gefühl und umfasst gleichzeitig etwas Weiteres als das einfache Zuhause.

            Als sich unsere entfernten Vorfahren während der Steinzeit in die wilde Welt verbreiteten, machten sie sich nicht unbedingt auf dem Weg nach einer möglichen Heimat. Ihre Gedanken galten fast nur der Suche nach Essen. Sie wurden gezwungen, Tierherden zu folgen und Nutzpflanzen zu suchen, ohne sicher zu sein, den nächsten Winter überleben zu können. Im Laufe der Geschichte mussten immer wieder einzelne Menschen, Familien, Stämme oder sogar ganze Völker ihre Heimat oder den Ort, den sie dafür hielten, verlassen, um einen neuen Platz in der Welt für sich zu finden. Diese Bewegungen geschahen meistens unter Zwang oder Druck von externen Bedingungen, wie zum Beispiel der Verdrängung durch andere Gruppen, klimatischen Änderungen..., aber manchmal auch freiwillig: Die Neugier und das Verlangen nach mehr Wissen treiben uns bis heute bis zum Mond und vielleicht bald bis zum Mars!

            Im 20. und jetzt weiter im 21. Jahrhundert zählen wir nicht mehr die Beispiele von Migrationen. Aber der wohl am längsten bekannte und dokumentierte Prozess der Zwangsumsiedlungen ist derjenige der Juden. Von Ägypten flohen sie nach Palästina, von wo sie in den ersten Jahrzehnten unserer Zeitrechnung wegen den Eroberungszügen der Römer wieder fliehen mussten. Sie verbreiteten sich in viele Teile der Welt, wo sie sich für Jahrhunderte ein neues Leben ausbauten. Doch die Vorstellung der Heimat, des „Gelobten Landes“, war in ihnen so verankert, dass ihre Nachfahren willensstark und mit viel Geduld schließlich einen Staat im Nahen Osten erst knapp 1900 Jahre später errichteten, der trotz aller Schwierigkeiten und Konflikte mit den inzwischen beheimateten Völkern bis heute besteht.

            Europa sowie Afrika und Asien kannten auch im 20. Jahrhundert vor, während und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg große Wellen von Migranten mit unzähligen Opfern. Und die aktuelle Flüchtlingskrise erschüttert seit einigen Jahren die europäischen Regierungen. Die betroffenen Menschen suchen Sicherheit und ein würdiges Leben, auch wenn sie oft enttäuscht werden. Das Versprechen, garantierte Werte wie Freiheit, Gleichberechtigung, Sicherheit und Menschenrechte zu gewährleisten, ist selten eingehalten, weil es auf pragmatische politische und wirtschaftliche Interesse stößt. Doch die meisten von diesen oft verzweifelten Menschen streben einfach nach einer besseren Zukunft, für sie selbst und ihre Kinder, genauso wie wir. Die Suche nach Heimat ist dabei manchmal zweitrangig.

            Innerhalb Europas zeigen sich deren Einwohner oft bereit, für das Studium oder für eine gute Arbeitsstelle, den Ort, in dem sie wuchsen zu verlassen, und Familie und Freunde hinter sich zu lassen. Während meiner eigenen Zeit an der Universität ergriff ich die Möglichkeit, mich für ein „Erasmus“-Jahr zu bewerben und verbrachte dann zwei Semester in Köln, in Deutschland. Trotz einiger Schwierigkeiten und Enttäuschungen ganz am Anfang fühlte ich mich schnell sehr wohl in dieser wunderbaren Stadt und hatte Glück, Leute aus der ganzen Welt kennenzulernen, die Köln seit längerer Zeit kannten und liebten, sodass sie mir die Metropole am Rhein aus vielen Perspektiven zeigten. Seitdem fasziniert mich diese Stadt immer wieder. Stolz wegen ihren eigenen Kultur, Sprache und besonderen Identität und gleichzeitig weltoffen und tolerant. Egal, woher man kommt, aus Timbuktu, Tokio oder Trier, jeder, der zum Beispiel beim Karneval mitsingt, wird als Sohn oder Tochter Kölns übernommen.

            Ich habe meine Kindheit und jungen Jahre in meiner „Heimat“-Region verbracht, bevor ich in Köln sieben Jahre lang studierte und arbeitete. Zwischendurch arbeitete ich knapp acht Monate im Gymnasium eines Städtchens in Rheinland-Pfalz. Doch nach diesen zahlreichen und vielseitigen Erfahrungen fand ich keine günstige Arbeitsstelle und musste unfreiwillig nach Frankreich zurück. Nach mehreren Monaten Unklarheiten über die Zukunft in meiner Heimatregion zog ich nach Paris, um weiter zu studieren und bekam schließlich eine Stelle in einem seiner schwierigen Vororte. Doch Köln und genereller Deutschland blieben im Visier und nach fünf Jahren in Frankreichs Hauptstadt fand ich die Möglichkeit, nach Deutschland wieder umzusiedeln, nachdem ich mich für eine Stelle in Berlin bewarb und erhielt. Mittlerweile lebe ich seit circa sechs Jahren im Weddinger Kiez und bereue meine Entscheidung nicht.

            Doch oder eben deshalb fällt es mir heute schwer, eine Heimat zu nennen. Klar, die Auvergne ist und bleibt in Frankreich der Ort, woher ich komme und wohin ich immer wieder zurückkomme. Die Sommermonate an der französischen Atlantikküste sollten auch nicht vergessen werden. Die langen Spaziergänge zu Fuß oder mit Pferd, die Badenachmittage, der Besuch kleiner Dörfer, Museen, Häfen und traditioneller Feste und das Segeln prägten diese glücklichen Jahren als Kind und Jugendlicher stark. Mittlerweile aber fühle ich mich auch in Berlin sehr wohl und zufrieden. Doch im Herzen betrachte ich mich weiterhin als „Kölsche Jung“.

            Viele Menschen fürchten, eine Mischung von Gruppen aus verschiedenen Ländern und Kulturkreisen gefährde ihre Identität und ihre Gewohnheiten. Es mag in besonderen Fällen stimmen, doch nichts bleibt ewig gleich, und im Gegenteil stellt diese Mischung eine Bereicherung für alle dar, solange ein Konsens über gemeinsame Werte und die Bereitschaft, sich dem Anderen zu öffnen bzw. zu akzeptieren, vorhanden sind. Und nehmen wir an, dass der Mensch ins Weltall reist, andere Welten besichtigen kann und dabei auf weitere intelligente Lebensformen stößt. Vermutlich rücken die Herkunft und die einzelnen Nationalitäten einer Gruppe solcher Menschen in den Hintergrund, wenn sie sich mit außerirdischen Wesen trifft.

            Während meiner Zeit in Köln befreundete ich mich mit einem Spanier aus Teneriffa von den Kanarischen Inseln. Nach einigen Bieren schimpfte er manchmal gegen Deutsche. Als ich ihn fragte, warum er sich so aufrege, antwortete er, dass er sich in Deutschland fremd fühle und nicht mit allem klar kommen könne. So was passiert jedem. Doch er erklärte weiter, dass, wenn er sich in Barcelona oder Madrid aufhielt, er als Bewohner der Kanarischen Inseln gegen die Festland-Spanier schimpfe. Und wenn er nach Gran Canaria reise, schimpfe er als Spanier aus Teneriffa gegen die Bewohner der Hauptinsel. Seine Erklärung wunderte mich, doch da erkannte ich, dass wir tatsächlich nicht nur eine Identität in uns tragen, sondern uns selbst auf verschiedenen Ebenen definieren.

            Um Feinbilder zu beseitigen, stellen Reisen eine sinnvolle sowie attraktive Möglichkeit dar. Doch zu oft werden wir in fremden Ländern so geführt, als ob wir uns in einem Zoo oder Museum befinden. Die sogenannten Pauschalreisen ziehen durch ihre unschlagbare Preise zwar viele Touristen an, doch vom besuchten Land und deren Einwohnern sehen sie meistens wenig oder nur im Rahmen eines Massenkonsums. Die Einheimischen betrachten wiederum die Besucher oft nur als Geldquelle, die so weit es geht, ausgebeutet werden soll. Für authentische Begegnungen und Erlebnisse bleiben kaum Zeit und Möglichkeiten.

            Um eine Kultur zu begreifen, braucht der Reisende deshalb mehr als eine Woche, um Erfahrungen zu sammeln. Es existieren viele Möglichkeiten, dieses Ziel zu erreichen, wenn  genug Zeit eingeplant werden kann. In den letzten Jahren durfte ich ein Praktikum in Kiew in der Ukraine absolvieren und ehrenamtlich für eine NRO in Tansania konkrete Unterstützung anbieten. Beide Erfahrungen erwiesen sich als sehr positiv, vor allem, weil die Gelegenheit bestand, Menschen des jeweiligen Landes in ihrem eigenen Umfeld kennenzulernen. Der alltägliche Arbeitsrhythmus modifiziert die Sicht von Land und Leuten und ermöglicht die Einprägung der fremden Kultur sehr stark. Vorausgesetzt sind natürlich Neugierde, Offenheit und am besten auch einige Basiskenntnisse in der lokalen Sprache. Ein einfaches „Hallo“ oder “danke“ kann vieles bewirken!

            Wer den Schritt wagt und schafft, eine fremde Kultur kennenzulernen und zu begreifen, nimmt vieles mit sich mit (nicht nur die üblichen Objekte und Geschenke des Souvenirladens!), das sich nicht berechnen lässt, sondern ihn im Inneren bereichert. Dazu zählen Werte, kulinarische Gewohnheiten oder Kontaktdaten von Einheimischen, irgendetwas bleibt immer und ändert beide Seiten.

            Doch dieser Prozess kennt auch Kehrseiten. Durch das Kennenlernen von weiteren Kulturen und Geschichten werden andere Ansichten vermittelt und es kann wohl sein, dass die eigene Kultur plötzlich in einem anderen Licht erscheint: in Europa machten sich nicht nur das deutsche Volk unter der nationalsozialistischen Herrschaft durch schlimme Gräueltaten schuldig, sondern verbreiteten die meisten anderen europäischen Mächte Mord, Terror und Verwüstung in anderen Teilen der Welt. Bis heute wird in manchen Ländern an dunkle Zeiten erinnert, die in Westeuropa gern vergessen würden oder zumindest wenig thematisiert und verarbeitet werden, um die Verantwortung unserer demokratischen und freien Staaten zu mindern.

            Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass solche Erfahrungen einigen aufmerksamen Reisenden ihr Verständnis oder ihre Sicht radikal ändern können. Sowohl für solche Personen als auch für deren Angehörige, ob Freunde, Nachbarn oder Familie, mögen diese Änderungen nicht nur Hindernisse zum gegenseitigen Verständnis in der Beziehung, sondern auch eine mögliche Verfremdung erzeugen. Deshalb sollte auch die Heimat nicht nur mit einem Ort oder einer Kultur, sondern auch mit Bindungen zu Mitmenschen verstanden werden.

            In diesem Sinne muss solch eine große Gemeinschaft wie die Europäische Union neu definiert werden. Vieles zeigt eindeutig, dass die einzelnen europäischen Mächte im Konkurrenzkampf in den wirtschaftlichen, technologischen und politischen Bereichen gegen die USA, China, bald Indien oder Russland wenig Chancen haben, sich erfolgreich durchzusetzen. Daher sollte eine engere Kooperation zwischen den Nationen der EU gefördert werden, um mithalten zu können. Diese wird jedoch wegen einzelne Interesse der eigenen Mitgliedsstaaten gebremst. Eine Lösung bestände darin, eine Europäische Union der Völker statt der Nationen neu zu gründen: viele Stimmen erheben sich in diesem Sinne, beispielsweise in Katalonien oder Schottland. Tatsächlich hat ein Münchner mehr mit einem Wiener und sogar mit einem Bozener als mit einem Berliner gemeinsam, ein Antwerpener mehr mit einem Amsterdamer als mit einem Lütticher, und da sind noch viele Beispiele von Völkern zu finden, die im Laufe der Geschichte willkürlich voneinander getrennt wurden. Warum dann nicht ein großes autonomes Katalonien von Valencia bis Perpignan oder Béziers, ein mächtiges Flandern von Lille bis zu den Niederlanden gründen, statt weiterhin zuzusehen, wie diese seit Jahrhunderten kulturell verbundenen Territorien willkürlich unter mehreren Nationen geteilt bleiben? Die Vielfalt von regionalen Kulturen und Sprachen einerseits lässt sich mit einem kontinentalen Großstaat „Europäische Union“ andererseits sicher vereinbaren.

            Dafür würde aber ein grundsätzliches Umdenken notwendig, nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch in allen Schichten der Gesellschaften. Das Erasmus-Programm ermöglicht zum Beispiel einen Anteil ganzer Generationen von Studenten, in einem anderen Land zu studieren. Solche Initiativen sollten vervielfältigt werden und sich auch außerhalb der Universitäten verbreiten, damit so viele Menschen wie möglich davon profitieren. Schon im Mittelalter verstanden Handwerker, dass das Wissen sich nicht in einem Ort konzentrieren lässt, sondern erst durch einen jahrelangen Lerngang unter vielen Meistern erworben wird. So entstanden die Gesellenbruderschaften, deren Tradition bis heute in unterschiedlichen Formen besteht. In all diesen Prozessen müssten die Völker gefragt, sowie an den Projekten aktiv involviert werden, um diese Konstruktion gemeinsam erfolgreich durchzusetzen, anstatt diese einigen wenigen Politikern und weiteren Entscheidungsträgern mit wirtschaftlichen Interessen willkürlich zu überlassen. Das Wohl der Völker, aber auch des Einzelnen muss als erklärtes Ziel betont werden, damit die Europäische Union auch als „Heimat“ wahrgenommen werden kann. Leider gehört dieses Ideal nicht zur alltäglichen Realität vieler Europäer. Viele stellen sich die Frage, ob die EU ihr Leben verbessert hat. Diese gilt oft als Sündenbock für alles, was nicht richtig funktioniert und steht für bürokratische, sinnlose Komplexität. Doch manche vergessen auch die guten Seiten und die vielen Hilfsprogramme. Eine alte „Wahrheit“ verifiziert sich für diese Skeptiker immer wieder: „früher war es besser“ und zeugt von der Angst vieler Menschen, sich dem Unbekannten zu öffnen. Dies übertrifft allerdings das Problem der Heimat.

            Die Schwierigkeit, dieses Gefühl zu beschreiben, findet sich wieder bei einem anderen   starken und abstrakten Konzept, das in unseren Gesellschaftsmodellen nicht wegzudenken ist und das man trotzdem weder leicht beschreiben, noch richtig beherrschen kann. Ich würde tatsächlich einen Vergleich mit der Liebe wagen, da die „Heimat“ als „Liebe zum Vaterland“ verstanden werden kann. Verbundenheit, starke Zuneigung und Zugehörigkeit mischen sich, oft ohne Logik und Selbstverständnis. Es stellt sich heraus, dass diese Prozesse, egal ob langsam oder schnell, sich selbstständig (weiter-)entwickeln und niemand kann wirklich erklären, was sich in unseren Gehirnen abspielt, welche Hormone interagieren oder welche Gene dafür genau verantwortlich sind. Sicher ist, dass wir da nicht als Herr des Geschehens stehen.

            Ein weiterer  gemeinsamer Aspekt besteht darin, dass sich sowohl die Heimat als auch der Partner bzw. die Partnerin oft in unserer Nähe finden lassen. Viele von uns denken, die perfekte Liebesbeziehung zu suchen oder gefunden zu haben. Doch was ist daran wahr? Ein Volltreffer sollte theoretisch nur möglich sein, wenn wir alle Menschen kennenlernen, die in Frage kämen, ob der direkte Nachbar oder die Herrscherin eines weit entfernten Staates. Oder einfach ganz viel Glück bei der Suche haben. Doch meistens finden wir die Liebe in unserer direkten beruflichen oder privaten Umgebung, im Sport- oder Hobbyverein, im Freundeskreis oder bei der Arbeit. Solch eine Gemeinsamkeit reicht meistens, um das Fundament einer Beziehung darzustellen. Allerdings zerbrechen viele nach einer variablen Zeit. Im Laufe seines Lebens kann ein Mensch mehrere Liebesbeziehungen erleben, auch wenn die erste, meistens aus den jungen Jahren viele von uns so stark prägt, dass diese die zukünftigen Partnerschaften beeinflusst.

            Wie Jürgen Markus es einst sang, „eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“. Egal wie traumatisch eine Trennung sein mag, oder welche Erleichterung diese mit sich bringt, auf jeden Fall stellt eine Begegnung einen neuen Anfang dar. Sie verspricht viel Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Keine Beziehung gleicht der nächsten und wie der Reisende in einem fremden Land, müssen die frisch Verliebten sich erst mal richtig kennenlernen und aneinander gewöhnen. Es handelt sich um einen langen und manchmal schwierigen Prozess, da die neuen Partner oft die unterschiedlichsten Erfahrungen erlebten oder aus verschiedenen soziokulturellen Gruppen stammen. Hier gilt eine wirklich wichtige Regel: Empathie oder zumindest die Fähigkeit, sich in die Rolle des Partners zu versetzen, um zu verstehen, wie er sich fühlt, was er denkt. Wer in der Lage ist, sein eigenes Empfinden für kurze Zeit zu vergessen, um sich eine Sicht der Lage mit den Augen des Geliebten zu verschaffen, erhöht die Chance, sich besser zu verständigen und dementsprechend eine glücklichere Beziehung zu erleben.

            Diese Fähigkeit ist auch in Wissenschaften gefragt: um ein erfolgreicher Historiker zu werden, muss der Studierende sich bemühen, ein Ereignis, eine bedeutende Entscheidung oder das Verhalten einer Schlüsselpersönlichkeit in der Vergangenheit in dessen damaligen Kontext zu verstehen, ohne den jetzigen Standpunkt der Forschung zu berücksichtigen. Der seriöse Ethnologe muss auch die Eigenschaft entwickeln, fremde Kulturen mit deren eigenen Wörtern, Glauben, Werten und Gebräuchen erklären zu können, ohne kritische Blicke aus seiner eigenen Kultur zu berücksichtigen. Diese Übungen mögen schwierig erscheinen, werden trotzdem als notwendig erachtet, um die Wirklichkeit und die Realität einer bestimmten Gegenwart oder eines bestimmten Ortes wiederzugeben.

            Eine neue Liebe kann auch eine neue Heimat bedeuten. Nicht selten lernen sich Menschen kennen, die in unterschiedlichen Vierteln einer Großstadt, in benachbarten Dörfern oder Regionen leben. Immer öfter stammen sie sogar aus verschiedenen Ländern, wenn nicht Kontinenten. Für eine langfristige Beziehung muss einer der beiden Partner umziehen und dabei nicht nur einen neuen Menschen, sondern auch neue Umgebung und Lebensbedingungen kennenlernen, verstehen und akzeptieren. Viele unterschätzen die Schwierigkeiten, mit denen dieser bedeutende Schritt verbunden ist. Aus einer glücklichen Beziehung kann sich schnell eine wackelige Partnerschaft entwickeln, auch weil sich viele Menschen im Alltag unterschiedlich als in außergewöhnlichen Situationen benehmen. Wählen wir als Beispiel die Urlaubszeit: am Strand, im Klub oder in der Holzhütte fühlen sich die meisten von uns  oft viel entspannter. Die Sorgen und Probleme bleiben hinter uns, und viele Menschen zeigen sich dementsprechend offener, mutiger und mehr bereit, jemanden kennenzulernen oder Dinge zu probieren, die sie sich in ihrem Alltag nie trauen würden. Doch der Schein kann trügen, und sobald zu Hause angekommen, verschwindet dieses Gefühl der Freiheit zugunsten der Last der normalen Aufgaben. Oder man kehrt zu den häuslichen Gewohnheiten zurück. Und falls die Urlaubsliebelei zu etwas größerem wachsen sollte, stehen vor dem frisch verliebten Paar neue Herausforderungen. Genauso wie die Heimat auf unterschiedlichen Ebenen, und zwar kontinental, national, regional und lokal empfunden werden kann, trägt unsere Persönlichkeit zahlreiche Facetten, je nachdem wie wir uns gerade fühlen, mit wem wir uns unterhalten und welche Situation wir gerade erleben.

            Jeder Mensch ändert sich auch im Laufe der Zeit, durch Hobbys, Beruf, Arbeitsplatz, Begegnungen und wächst mit jeder neuen Erfahrung. Er bleibt zwar im Grunde derselbe Mensch, zumindest was seine DNA angeht, mit eigenen Fähigkeiten und Gedankenprozessen, die ihn sicher zu bestimmten Handlungen treibt. Doch Glück, Unglück und viele Zufälle im Leben verbleiben unvorhersehbar und die Kombination all der Erlebnisse eines Menschen ermöglicht ihm, sich in eine positive, manchmal aber leider auch in eine negative Richtung weiterzuentwickeln. Darüber allerdings streiten sich Natur- und Geisteswissenschaftler: Die einen behaupten, dass unser genetischer Kodex so gut wie alles in unserem Leben bestimmt, während die anderen die Umstände und externen Verhältnisse für unsere Entscheidungen verantwortlich machen. In einer Beziehung erweist sich als Herausforderung, dass beide Partner sich nicht nur sehr gut kennen und verstehen, sondern auch in dieselbe Richtung blicken müssen, um trotz der Unterschiede und der fast unvermeidlichen kleinen Konflikte des Alltags eine gemeinsame Zukunft zu erzielen.

            Ohne die Liebe eines Partners zu leben, bleibt für viele Menschen undenkbar. Lieben stellt zwar kein so notwendiges Bedürfnis wie atmen, essen und trinken dar, erweist ich doch als wichtig genug, um für viele Menschen danach streben zu wollen. Liebe, Zuneigung und Anerkennung wünscht sich nämlich fast jeder Mensch. Eine Heimat zu haben bedeutet etwas ähnliches. Die meisten von uns brauchen Wurzeln: Einen Ort, wo man sich normalerweise gut fühlt, oder der ermöglicht, sich zurückzuziehen. Es ist nicht notwendig, diesen Ort zu lieben, es reicht das Zusammengehörigkeitsgefühl. Und die Heimat muss nicht einfach nur mit einem Ort verstanden werden. Als Mensch fühlt man sich auch als Mitglied einer Gemeinschaft mit eigener Geschichte, geteilten Normen und Werten sowie gemeinsamen Erlebnissen. Heutzutage lassen sich unter anderem Kreuzfahrten für Metalfans oder Gruppenreise für Singles finden; jeder darf Gleichgesinnte finden. In einer Zeit der Mobilität, in der einzelne Menschen, Familien, ganze Gruppen oder sogar ethnische oder religiöse Gemeinschaften sich auf dem Weg nach einer besseren Zukunft machen oder zumindest Schutz und Sicherheit suchen, wird dementsprechend mehr über die Liebe zur alten bzw. neuen Heimat heiß diskutiert. Was verstehen Menschen darunter? Oder was meinen sie? Wer sich in einem Ort oder in einer Gemeinschaft zu Hause fühlt, heißt es nicht, dass er sie liebt? Jeder sollte für sich entscheiden dürfen, so wie der Candide von Voltaire. Der berühmte französische Schriftsteller aus dem 18. Jahrhundert spricht mit dem Mund seiner Romanfigur. Der ursprünglich junge naive Mann fasst es am Abend seines Lebens für uns knapp und gut zusammen: Während seiner jahrelangen Abenteuer, Reisen und Suchen nach seiner entführten Jugendliebe musste sich Candide von externen Ereignissen treiben lassen und konnte kaum Einfluss darauf nehmen. Er wurde Soldat, Sklave, Gefangener, irrte um die Welt, traf zahlreiche außergewöhnliche Menschen... Doch am Ende findet er in einem kleinen Haus seine Ruhe, umgeben von den wenigen Menschen, die er liebt und die ihm treu geblieben sind, und begnügt sich damit, sich um seinen eigenen kleinen Garten zu kümmern.

            Knapp zweihundert Jahre später scheint Hermann Hesse in seine Stapfen zu treten. Der Literaturnobelpreisträger verbrachte mit seiner letzten Frau nach turbulenten Jugendjahren Jahrzehnte teilweise damit, Blumen und weitere Pflanzen in seinem kleinen Anwesen in den Anhöhen von Lugano in Tessin zu pflegen, abseits vom Rest der Welt. Sowohl er als auch der fiktive Candide fanden wahrscheinlich nach großem Aufwand eine ganz bescheidene Bleibe, und damit Liebe, Glückseligkeit und schließlich eine Art ganz persönlicher Heimat.

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