Nachts, wenn alles schläft...

suzieq

Postwerbung auf einem Plakat an der S-Bahn-Haltestelle

Text: Holen Sie Ihre Pakete auch dann, wenn andere schlafen

Bild: Eine Reihe von Post-Schliessfächern, nachts. Eines davon ist geöffnet, darin liegt ein kleines Paket. Die dem Betrachter zugewandte Seite des Pakets trägt die Aufschrift "ökologisch". Vor dem Fach steht ein junger Mann mit Kinderwagen. Sein Blick ist lächelnd auf das Kind im Wagen gerichtet.

 

Was geht dem Betrachter, der an der Bahnhaltestelle wartet, durch den Kopf?

 

- Die Post hat vor einiger Zeit angekündigt, einen grossen Teil ihrer Filialen zu schliessen. Sie versucht, dies den Kunden als Gewinn zu verkaufen, da sie ja nun nicht länger an strikte Filial-Öffnungszeiten gebunden sind. Deshalb hängen überall Plakate, die für die neue Flexibilität werben sollen: "Zahlungen an der Haustür erledigen"; "Pakete daheim abholen lassen"; "Post im Quartierladen aufgeben".

- Diese Werbeplakate mit ihren Versprechungen mögen zum Teil recht attraktiv wirken, aber dieses eine hier? Warum, um Himmels willen, mit einem Baby im Wagen nachts, wenn alle anderen wohlig in ihren Betten liegen und schlafen? Was, bitte, soll hier für den Postkunden so attraktiv sein?

- Dass er mit seinem kleinen Kind sein Paket nachts selbst abholen muss, anstatt zu schlafen und das Paket am nächsten Morgen nach Hause geliefert zu bekommen? Dass er sein Kind, das noch nicht einmal sitzen kann, nachts aus dem Bett holen muss, um mit ihm zum Postautomaten zu laufen? Während die Mutter und Ehefrau zuhause im Bett liegt und schläft?

- Oder ist das Bild von der traditionellen Familie ganz falsch, und es handelt sich um einen alleinerziehenden Vater, der tagsüber arbeitet und das Paket deshalb nicht zu Hause entgegen nehmen kann? Der also froh ist, wenn er nachts, bevor er ins Bett geht, noch schnell das Paket aus dem Schliessfach abholen kann?

- Aber warum sieht der Mann auf dem Bild dann so zufrieden und entspannt aus, wo er doch müde und abgearbeitet sein müsste? Kommt er etwa gerade vom Ausgang, hat auf dem Heimweg sein Kind bei der Babysitterin abgeholt und nimmt nun noch schnell das Paket mit?

- Oder doch ein Familienvater, dessen Kind nachts noch nicht durchschläft? Als moderner Mann lässt er seine Frau vielleicht schlafen, zieht sich an und packt sein Kind in den Wagen? Vielleicht denkt er "frische Luft tut uns gut", und holt bei dieser Gelegenheit das Paket ab?

- Oder stellt die Post gar in absehbarer Zeit den Paketzustelldienst ein?

 

Fragen über Fragen.

 

Die Post hat es hier (zumindest für mich) nicht geschafft, den Sinn ihrer Werbung unmittelbar deutlich zu machen.

Was sie jedoch geschafft hat ist, dass ich mir Gedanken gemacht habe über dieses Plakat, während ich auf den Zug wartete. Über den jungen Mann und sein Kind. Über ihre Familiensituation. Über mögliche Lebensformen im Allgemeinen. Und darüber, dass Flexibilität und Individualität in der heutigen Zeit möglicherweise doch von ziemlich grosser Bedeutung sind.

Obwohl ich das nicht so toll finde. Obwohl ich lieber den Postschalter habe, der morgens um 7.30 Uhr öffnet, abends um 18.00 Uhr schliesst und von mir aus über Mittag zwei Stunden geschlossen ist. Mit einem Briefmarkenautomaten vor der Tür. Verlässliche Werte eben.

Ich bin gerne bereit, eine Nummer zu ziehen und zu warten. Doch bitte ohne all die Warenauslagen vor den Schaltern. Ich will keine Bücher und keine Handys kaufen, sondern den alten Postmief (zusammengemischt aus dem Geruch von Briefmarken, Stempelfarbe und Karton) einatmen, während ich die Rücken vor mir studiere und überlege, welcher davon wohl als erster den Schalter freigeben wird. Natürlich ärgere ich mich über die Sekretärin, die abends die ganze Geschäftspost aufgibt und über die Tamilin, die in gebrochenem Deutsch versucht, eine Zahlungsanweisung in ihre Heimat zu veranlassen. Aber es gehört eben dazu.

 

Bei dem Gedanken, nachts meine Pakete zu holen, wenn andere schlafen, läuft es mir kalt über den Rücken.

Doch halt – auf einmal kommt mir eine Erleuchtung (vielleicht liegt des Rätsels Lösung ganz nah): Will das Plakat vielleicht nur zeigen, dass das Kind friedlich schläft, während der Vater entspannt das Päckchen dem Schliessfach entnimmt? Bezieht sich das "andere" gar nicht auf andere Menschen, sondern auf dies eine Kind?

Doch nein – das wäre ja zu banal, und kein Beispiel für neu erworbene Flexibilität.

 

Eigentlich ist es mir auch egal.

Viel lieber als all die neuen angepriesenen Vorteile hätte ich es, wenn meine um 7 Uhr morgens eingeworfenen A-Post-Briefe am nächsten Tag zugestellt würden.

Dafür bezahle ich nämlich A-Post-Marken, und begebe mich extra zum Briefeinwurf bei der (noch existierenden) Postfiliale.

 

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